Aus der GCL – für Europa: Interview mit Dr. Michael Stöhr

Dr. Michael Stöhr ist GCL-Mitglied und kandidiert in diesem Jahr zur Europawahl für die ÖDP. Als Nummer zwei auf der Liste hat er gute Chancen, ab Sommer Mitglied des Europaparlaments zu sein. Im folgenden Interview gibt er Einblick in seine politischen Überzeugungen, die maßgeblich auf den Grundlagen seines christlichen Glaubens basieren.

Das Interview ist als Video auf Youtube unter folgendem Link erreichbar: https://youtu.be/soIZ3vE8mKg

GCL: Lieber Michael, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, uns ein wenig mehr über dich und die Hintergründe für dein politisches Engagement zu verraten. Du bist Mitglied der GCL in München – und kandidierst für die ÖDP bei der Europawahl. Das sagt nur auf den ersten Blick etwas über dich als Person aus. Wer ist Michael Stöhr?

MS: Ich bin 59 Jahre alt und Vater dreier junger Erwachsener. Im Laufe meines Lebens habe ich ehrenamtlich zwei Bürgerenergiegemeinschaften aufgebaut und ein ökologisch-soziales Wohnprojekt mitgestaltet. Ich pflege einen einfachen Lebensstil, habe kein eigenes Auto und wohne in einer Genossenschaftswohnung. Ich reise mit der Bahn. Mein Gepäck trage ich gerne im Rucksack, dann habe ich die Hände frei. Und: Ich bin katholischer Christ.

GCL: Was heißt das für dich Christ zu sein?

MS: Das hat für mich mehrere Dimensionen: persönliche Gottesbeziehung, weltweite Gemeinschaft der Kirche, ökumenische Verbundenheit mit anderen Konfessionen und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Glauben. Ich bin als Kind und Jugendlicher christlich aufgewachsen: katholische Familie, Pfarrei, ökumenische Gebetsgruppe an der Schule … Bei der katholischen Pfadfinderschaft St. Georg kam ich das erste Mal bewusst mit Umweltthemen in Berührung. Auch die Integration von Menschen mit Einschränkungen war ein Thema. In meiner Gruppe war ein Jugendlicher mit Down-Syndrom.

GCL: Du bist selbst hörbehindert, kannst mich aber gut verstehen …

MS: Ja, meine Hörgeräte sind jetzt per Bluetooth mit dem Computer verbunden. Ich verstehe dich sehr gut. Im Europaparlament sind die Räume mit Induktionsschleifen ausgestattet. Was in die Mikrofone gesprochen wird, werde ich sehr gut verstehen.

GCL: Du sprachst von mehreren Dimensionen deines Christ-Seins …

Richtig. An der Universität belegte ich im Rahmen des Studium Generale drei Semester Christliche Gesellschaftslehre und entdeckte, dass man sich dem Glauben auch intellektuell annähern kann. Intensiv erlebte ich das dann als Stipendiat der Bischöflichen Studienstiftung Cusanuswerk.

An Pfingsten vor 38 Jahren nahm ich das erste Mal an ignatianischen Exerzitien teil. So entdeckte ich die persönliche spirituelle Dimension des Glaubens.

Aber auch die Weltkirche habe ich in vielerlei Weise erlebt. Erwähnen möchte ich vier Wochen vor 29 Jahren in Madagaskar. Dort sah ich eine Kirche, die mit Menschen in größter Armut lebte und mit ihnen nach einfachen, lokal angepassten Lösungen für ihre konkreten Probleme suchte: Trockenreisanbau, Armierung von Beton mit Bambus, effizientere Holzbrennöfen, etc. Auch solche Erfahrungen haben mich – und meinen Glauben – geprägt.

GCL: Wie hast du zur Gemeinschaft Christlichen Lebens (GCL) gefunden?

MS: Nach den ersten Exerzitien vor 38 Jahren habe ich sechs Jahre in Frankreich gelebt. Dort habe ich eine ganz andere Kirche als in Deutschland kennengelernt. Durch die Jesuiten in der Hochschulgemeinde in Grenoble habe ich mehr über die ignatianische Spiritualität erfahren.

In Kontakt mit der GCL kam ich aber erst vor 29 Jahren, als ich schon drei Jahre in München lebte. Ich traf auf dem Marienplatz einen Jesuiten, der Unterschriften gegen Landminen sammelte. Wir kamen ins Gespräch und er gab mir die Adresse der GCL.

Ein wichtiges Element des Lebens in der GCL sind für mich die europäischen Ferien, an denen ich seit 25 Jahren insgesamt zehnmal teilgenommen habe. Dabei sind viele Kontakte entstanden und am Rande beruflicher EU-Projekttreffen habe ich GCL-Gruppen in Polen, Litauen und Lettland besucht.

GCL: „Berufliche EU-Projekttreffen“ – das klingt, als wärest du auch im Job viel international unterwegs. Was machst du beruflich?

MS: Ich bin Physiker. Die Experimente für meine Doktorarbeit habe ich in einer französisch-britisch-polnischen Arbeitsgruppe am Europäischen Hochmagnetfeldlabor in Grenoble in Frankreich gemacht. Seit 32 Jahren arbeite ich in europäischen Forschungs- und Entwicklungsprojekten zu erneuerbaren Energien. Ich hatte mit ländlicher Elektrifizierung in Afrika zu tun, mit Regionalentwicklung, mit Photovoltaik, Windenergie, Biokraftstoffen, Meerwasserentsalzung und vielem anderen. Dabei habe ich mit Projektpartnern aus fast allen europäischen Ländern zusammengearbeitet, mit Kommunen, Regionen, Energieagenturen, mit Forschungsinstituten, mit Industrieunternehmen u.a.

GCL: Du bist also durch und durch Europäer – oder würdest du dich eher noch als Weltbürger bezeichnen?

MS: Etiketten lasse ich mir ungern verpassen, aber das des Europäers würde passen. Mit Europa verbinde ich viele positive und emotional starke Erlebnisse. Mein erstes war das europäische Pfadfindertreffen Eurofolk 1981 in Westernohe im Westerwald. Ich bin mit einigen aus meiner Pfadfindergruppe hingeradelt. Es war ein einziges atemberaubendes großes Fest, ein Erlebnis von Gemeinschaft über Sprachgrenzen hinweg, einer Feier der ganzen Vielfalt, die Europa zu bieten hat.

GCL: Spielt Europa oder generell Internationalität auch in deinem Privatleben eine Rolle?

MS: Der Stadtteil, in dem wir leben, bringt zwei Aspekte meines Lebens, das Internationale und die Ökologie wunderbar zusammen: Hier leben Menschen aus 110 Nationen. In meiner Pfarrei werden etwa 25 Sprachen gesprochen. Dank der Planung unseres Stadtteils als nachhaltiges Viertel kann ich hier viel von dem im Privaten umsetzen, wofür ich mich beruflich wie jetzt auch politisch eingesetzt habe: Seit 23 Jahren ist mein Haushalt bilanziell zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt. Vor 18 Jahren wurden wir damit Deutscher Energiesparmeister in der Kategorie Mieter. Möglich war das nur dank der entsprechenden politischen Rahmenbedingungen, der Genossenschaft, mit der wir bauten, den Car-Sharing-Autos vor der Haustür, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und vielem anderen. Erst in diesem Umfeld konnte ich persönliches Engagement entfalten. Das zeigt, wie wichtig politische Rahmenbedingungen sind, damit sich persönliches Engagement entfalten kann.

GCL: Kommen wir also zur Politik: Du kandidierst für die ÖDP, warum diese Kleinpartei?

MS: Die ÖDP steht für Naturschutz, aber auch für Lebensschutz. Hinzu kommen mittlerweile viele Alleinstellungsmerkmale, die mir wichtig sind: Große Distanz zu industriellen Lobbygruppen, Einsatz für Direktdemokratie, die Erkenntnis, dass auf einem begrenzten Planeten unendliches Wachstum nicht möglich ist, Orientierung am Gemeinwohl, Anerkennung familiärer Erziehungs- und Pflegearbeit, die deutliche Verringerung von Einkommens- und Vermögensunterschieden, u.a.

Die ÖDP hat das „C“ zwar nicht im Namen, aber im Programm. In ihr engagieren sich viele praktizierende Christinnen und Christen aus ihrem Glauben heraus. Bei Bundesparteitagen gehört eine ökumenische Andacht zum Programm – natürlich ist die Teilnahme freiwillig.

GCL: Wie lange engagierst du dich schon politisch?

MS: Seit den 1990er Jahren. Ich leitete die Regionalgruppe München von EUROSOLAR e.V. und habe in einer Arbeitsgruppe der Bayerischen Solarinitiativen ein Volksbegehren für die kostengerechte Vergütung von erneuerbarer Energie in Bayern vorbereitet. Unsere Arbeiten dienten dann der Vorbereitung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vom 1. April 2000, welches das Volksbegehren überflüssig und durch die ausgelöste Massenproduktion Solarstrom binnen weniger Jahre konkurrenzlos günstig machte. Diese Erfahrung zeigt mir, dass auch kleine Gruppen den entscheidenden Anstoß für globale Veränderungen geben können, wenn der Moment günstig ist.

Der ÖDP bin ich vor zehn Jahren beigetreten und habe mich vor allem im Bundesarbeitskreis Klima- und Umweltschutz, Verkehr und Energie engagiert. Seit zwei Jahren bin ich Vorsitzender der Bundesprogrammkommission und war federführend verantwortlich für das Europawahlprogramm 2024. Im Oktober wurde ich für den Listenplatz 2 bei der Europawahl nominiert.

GCL: Listenplatz 2 klingt gut – wie sind deine Chancen gewählt zu werden?

MS: Vielen gefällt die ÖDP und ihr Programm sehr gut. Sie müssen nur davon erfahren, dass sie gewählt werden kann. Es gibt bei der Europawahl keine formale 5-Prozent-Hürde. Wenn die ÖDP mehr als zwei Prozent erreicht, werde ich Abgeordneter. Die Chance ist real.

GCL: Dann käme eine völlig neue Aufgabe auf dich zu. Was bedeutet es für dich, ins Europaparlament einzuziehen?

MS: Es ist für mich kein persönlicher Karriereschritt, sondern die Übernahme eines Dienstes. Es bedeutet für mich Einsatz für die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen, für sozialen Ausgleich und Gemeinwohl, für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – wie in meinem bisherigen Leben auch, nur mit einem Amt, das größere Einflussmöglichkeiten bietet.

Als Christ weiß ich, dass nicht alles von mir abhängt, aber mein Einsatz etwas bewegen kann, dass es gilt, wachsam zu sein für die Momente, in denen etwas zum Besseren bewegt werden kann.

GCL: Was ist es konkret, das du in Europa – im Europaparlament – bewegen willst?

MS: Es gibt ein paar Leitmotive, die sich durch alle meine Entscheidungen ziehen werden: Gemeinwohl aller vor Profit weniger, Erhalt der Lebensgrundlagen, Würde des Menschen.

In den konkreten Forderungen des Europawahlprogramms der ÖDP klingen diese Leitmotive immer wieder an. Sie lassen sich auch den Grundprinzipien der Christlichen Gesellschaftslehre zuordnen …

GCL: … die sicher nicht jedem geläufig sind, selbst innerkirchlich nicht unbedingt. Ich fürchte, hier brauchen wir einen kleinen Exkurs. Wir reden von den drei Prinzipien „Solidarität“, „Gemeinwohl“ und „Subsidiarität“. Was heißt das für dich in der konkreten Ausformulierung?

MS: Solidarität zeigt sich zum Beispiel in Fairhandels- statt Freihandelsabkommen, Umsetzung und Weiterentwicklung der EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung, in einem angemessenen Grundeinkommen für Personen, die über kein eigenes Einkommen verfügen können.

Gemeinwohl: Hier habe ich vor allem die konsequente Neuausrichtung der gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP) an Gemeinwohlleistungen der Landwirtschaft vor Augen. Das betrifft Bereiche wie Klimaschutz, Erhalt der Artenvielfalt, Gewässerschutz, Tierwohl etc. Und ein zweiter wichtiger Bereich ist die Förderung von Energiegemeinschaften zur weitgehenden Eigenversorgung in Stadtvierteln und Kommunen sowie des Rad-, Bahn- und ÖPN-Verkehrs.

Und zu guter Letzt: Subsidiarität. Subsidiarität bedeutet für mich: Was auf der Ebene der Kommunen, der Regionen oder der Mitgliedsstaaten sinnvoll geregelt werden kann, soll nicht an die EU übertragen werden. Dezentrale, kleinteilige Strukturen sollen gefördert werden, wo immer es sinnvoll ist.

GCL: Gibt es Zielgruppen, für die du dich besonders einsetzen wirst? Wer sollte dich unbedingt wählen?

MS: Ich werde daran mitwirken, dass gutes Leben für alle ermöglicht wird. Ich mache nicht Politik für eine bestimmte Klientel. Nachfolge Jesu als Abgeordneter heißt für mich jedoch u.a., die vorrangige Option für die Armen in den Blick zu nehmen. Also werde ich vor allem denen Gehör schenken, die sonst leicht überhört werden, d.h. nicht den Lobbyverbänden der fossilen Energiewirtschaft, der Agrarchemie u.a., sondern denjenigen, die Bürgerinnen und Bürger vertreten, Energiegemeinschaften, bäuerliche Landwirtschaft, am Gemeinwohl orientierte Initiativen von unten, die Natur, das Klima. Als selbst schwer Hörbehinderter werde ich die Bedürfnisse der Gehörlosen und Schwerhörigen im Blick haben und mich z.B. für die Förderung von Gebärdensprachen stark machen.

GCL: Und welche Rolle spielt die Kirche dabei für dich? Hörst du auch auf die Kirche?

MS: Die christlichen Kirchen sind weltweit näher an den Menschen als viele andere. Als Abgeordneter muss ich bei etwa 4.000 Abstimmungen pro Jahr eine Entscheidung treffen. Nur bei einem kleinen Teil kann ich mich näher mit den sachlichen Gründen dafür und dagegen befassen, bei den meisten muss ich der Einschätzung anderer vertrauen. Hier baue ich auch auf meine Kontakte innerhalb des kirchlichen Raums. Ihnen traue ich bei vielen Fragen eine größere Ehrlichkeit und Sachgerechtigkeit zu als etwa industriellen Lobbygruppen, insbesondere wenn es um die Nöte der Menschen geht und benachteiligte Gruppen. So gesehen schenke ich auch der Kirche, oder besser: den christlich engagierten Menschen in der Kirche mein Gehör. Entscheiden werde ich nach meinem Gewissen.

GCL: Ganz herzlichen Dank für diese Einblicke in dein Denken und Wirken. Wir machen an dieser Stelle natürlich keine Wahlwerbung. Aber wir wünschen dir auf jeden Fall den erhofften Erfolg bei der Europawahl!

(Bild: © privat)

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